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Kapitel 1

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SIAN

Das gleichmäßige Piepen der Maschinen geht im Einklang mit ihrer Atmung. Moms Brust hebt und senkt sich langsam, ihre Lider flattern. Träge öffnet sie die Augen, ein müdes Lächeln umspielt ihren Mund. Sie greift nach dem Kabel ihrer Kopfhörer und summt die Melodie von In the Water mit. »Den Song könnte ich bis an mein Lebensende hören.«
»Das ist nicht witzig.«
Sie lächelt. »Doch ist es.«
Ich umfasse ihre kalte Hand, zwinge mich, das Lächeln zu erwidern, und wische mit dem Waschlappen über ihre Stirn. »Ruh dich aus, ich bin hier.«
»Ich  ...« Sie leckt sich über die aufgesprungenen Lippen. »Kann mich noch genug ausruhen, wenn ich -«
»Shh, nicht reden.« Bitte sag es nicht.
»Wenn ich weg bin -«
»Nein.« Ich schüttele den Kopf, will nichts davon hören. »Du wirst wieder -«
»Versprich mir, dass du weitermachst. Versprich mir, dass du dich erinnerst, wie du warst, und dass das hier nur ein Teil deines Lebens ist.«
»Mom.« Ich tauche den Waschlappen in die Schüssel mit kaltem Wasser auf dem Nachttisch. »Ich will nicht  ... Können wir über was anderes reden?«
Ich kann nicht.
Ich will nicht.
Seit Jahren habe ich Angst vor diesem Tag.
Seit Jahren versuche ich, es zu verdrängen.
Es kann noch nicht so weit sein. 
Ich bin nicht bereit.
Schwach drückt sie meine Hand. »Erinnerst du dich, wie du durch die Pfützen gesprungen bist, als du klein warst? Wie gerne du auf Bäume geklettert bist und wie du unsere Campingausflüge gemocht hast? Du warst immer die Erste am Lagerfeuer. Du bist durch den Wald gerannt und hast geschrien: »Ich bin ein Pirat.«« Mom versucht zu lachen, doch nur ein heiseres Röcheln dringt aus ihrer Kehle. »Sei wieder du. Sei wieder frei. Du kannst mich jetzt gehen lassen.«
»Erstens war ich damals acht und zweitens gehst du noch nicht. Ich brauche dich noch.«
»Ich weiß.« Sie streicht mit dem Daumen über meinen Handrücken. »Aber bevor ich krank wurde, warst du so lebendig. Also sei wieder du, Sian.«
Ich puste mir eine Strähne aus der Stirn und straffe die Schultern. Wahrscheinlich, um mir selbst Halt zu geben. »Redlan könnte echt allmählich mal auftauchen. Was macht er so lange?«
»Dein Bruder macht es richtig. Er lebt sein Leben.«
Aber er vergisst, dass wir nur eine Mutter haben.
»Guck nicht so, er nimmt den nächsten Flug. Morgen früh ist er hier.«
»Wird auch Zeit. Er hat sich seit drei Monaten nicht blicken lassen.«
»Red hat  ...« Sie verzieht den Mund, ihr Gesicht ist schmerzverzerrt.
»Soll ich die Schwester rufen?« Ich lasse Moms Hand los, stehe von der Bettkante auf und sehe mir den Infusionsbeutel an, der am Haken neben ihrem Bett hängt. »Fast leer. Du brauchst Morphium.«
Sie schüttelt den Kopf. »Quatsch, ich muss nur schlafen.«
»Sag ich doch.« Ich gehe zur Tür und strecke den Kopf hinaus in den Flur. Am Ende des langen Ganges flackert die Kunststoffröhre, eine Schwester kommt aus einem der Zimmer, ich hebe die Hand. »Könnten Sie meiner Mom bitte eine neue Infu...«
Die schrille Alarmglocke der Überwachungsgeräte unterbricht mich. 
Die Schwester rennt los.
Ich fahre herum, stürme zum Bett und packe Moms Schultern. »Mom?«
»Herzstillstand in Zimmer 237!«, brüllt die Schwester und zerrt mich zurück.
Sekunden später stürmt ein Arzt gefolgt von weiteren Schwestern das Zimmer.
»Schafft sie raus!« Der Arzt reißt Moms Pyjamaoberteil auf und legt das Stethoskop an ihre Brust, während mich eine der Schwestern zur Tür hinausschiebt.
»Ich muss zu ihr.«
Sie schüttelt den Kopf, doch es ist mir egal. Ich dränge mich an ihr vorbei und renne ins Zimmer. Der Arzt beugt sich über Mom, zieht ihre Lider hoch und leuchtet mit einer Stablampe in ihre Augen.
»Sie müssen sie wiederbeleben!« Warum tut er so, als wäre sie schon tot? »Los!«
Die Schwester, die mich eben noch aus dem Raum geschoben hat, legt eine Hand an meinen Rücken, als wolle sie mich trösten, aber es ist noch nicht zu spät. Die Maschinen piepen ungleichmäßig, immer wieder setzt Moms Herzschlag aus. Ich stürme zum Bett, schüttele meine Mutter und sehe den Arzt über meine Schulter hinweg an. »Los jetzt verdammt! Warum tun Sie nichts?«
Durch den Tränenschleier erkenne ich seine Miene nicht, doch anstatt endlich mit der Herzmassage zu beginnen, schüttelt er nur den Kopf. »Tut mir leid, Miss Masters. Ihre Mutter wünscht keine lebenserhaltenden Maßnahmen.«
Hastig taste ich nach Moms Rippen und beginne mit der Herzmassage. »Komm Mom.«
Tränen laufen über meine Wangen. »Komm schon.« Ich drücke ihren Brustkorb ein und schere mich nicht darum, ob ich ihre Rippen breche. Darum kümmern wir uns, wenn sie wieder atmet.
Das Piepen der Maschine geht in einen schrillen Alarmton über.
Nulllinie.
»Miss Masters.« Der Arzt versucht, mich von Mom zu ziehen, doch ich stoße ihn weg. »Bitte.«
»Komm schon verdammt.« Die Muskeln in meinen Armen schmerzen, Schweiß rinnt über meinen Rücken. »Du lässt mich jetzt nicht allein.«
Das Piepen der Maschinen hallt durch meinen Schädel, Mom liegt regungslos da. Immer wieder drücke ich meine Hände auf ihren Brustkorb. Ich kann sie nicht verlieren. Dazu bin ich noch nicht bereit.
»Mom.« Meine Stimme bricht, meine Muskeln versagen, ich werfe dem Arzt einen flehenden Blick zu. »Bitte. Bitte, du kannst nicht -«
»Komm Schätzchen.« Eine der Schwestern legt vorsichtig ihren Arm auf meine Schulter. »Ist gut, ich weiß. Ist schon gut.«
»Nichts ist gut.«
Ich presse den Handballen auf ihre Rippen und drücke zu.
Ein.
Aus.
Ein.
Aus.
Los, atme.
Ein.
Aus.
Nulllinie.
Ein.
Aus.
Ein.
Sie ziehen mich von meiner Mutter, schieben mich hinaus in den Flur, wo mich das kalte Licht der Kunststoffröhren empfängt.
Der Arzt schaltet die Maschinen ab.
Das Piepen endet.
Und damit auch mein Leben.
Einen Monat später

»Was ist mit Lesen?« Sutton lässt sich neben mich aufs Bett fallen, zieht die Decke ein Stück von mir und schwenkt den Zelda-Comic. »Wenn du willst, les ich dir auch was vor. Dann kannst du dich wieder über Link lustig machen.«
Ich ziehe die Decke wieder unters Kinn. »Vielleicht später.«
»Hast du gestern und vorgestern schon gesagt.« Sie wirft den Comic auf den Wäschehaufen neben dem Bett und krabbelt zu mir. »Okay, überredet. Ich frag Mom, ob wir uns ihre Kreditkarte leihen können. Du bist schon ewig auf diese Wildlederstiefel scharf.«
»Blake tut genug, ich werd nicht auch noch ihre Kohle auf den Kopf hauen.«
Sie winkt ab. »Ach, was. Sie freut sich, wenns dir besser geht.«
Sutton meint es gut, aber sie ist klug genug, um zu wissen, dass es nicht besser wird.
Nicht heute. 
Nicht morgen.
Vielleicht nie wieder.
»Ich weiß, ich kann nichts tun.« Sie legt sich neben mich. Sonnenstrahlen fallen durchs Fenster und lassen ihre dunkelbraunen Haare rötlich schimmern. »Ich kann nur für dich da sein und auch, wenn dus nicht hören willst  ... irgendwann kannst du wieder atmen.« Sie dreht mir den Kopf zu. »Ist nicht dasselbe, aber mit Grandma und selbst mit Zoe gings mir so ähnlich. Ich dachte, ich komm nie wieder in Ordnung.«
Ich hasse es, die Spielverderberin zu sein.
Ich hasse es, wie antriebslos und müde ich mich seit Moms Tod fühle.
Ich hasse, wie mich die Sachen, die ich davor geliebt habe, nicht mehr interessieren.
Nägel lackieren.
Bücher kaufen und meine Regale sortieren.
Kinobesuche mit meinen Freunden.
Französische Filme mit Untertiteln ansehen und von einem Parisurlaub träumen.
Volleyball spielen.
Flohmarktbesuche.
Lachen, als ob die Welt in Ordnung und das Leben einfach wäre.
Träumen.
Jetzt ist alles kalt. Alles um mich herum wirkt wie durch einen Blaufilter. Als hätte Mom alles was bunt und lebendig war mit sich genommen.
Vielleicht liegt es nur an meiner aus dem Gleichgewicht geratenen Gehirnchemie, vielleicht schlittere ich in eine Depression, vielleicht durchlebe ich auch nur die ganz gewöhnlichen Phasen der Trauer. 
Egal, was es ist, es fühlt sich an, als wäre es vorbei.
Als würde ich nie wieder über Suttons dämliche Zelda-Comics und den schrägen Humor ihres Dads lachen.
»Also hilft nichts, was?« Sie sieht mich einige Sekunden lang an. »Rien ne va plus. Du bist am Tiefpunkt.«
»Du hast eine schräge Art, deine Freunde zu motivieren.«
»Klar, ich bin Tyler Kinleys Tochter.«
Ich lächele. »Jap.«
Sie gleitet vom Bett und läuft zu ihrem Schreibtisch, den wir uns zusammen mit dem Rest ihres Zimmers seit vier Wochen teilen, und öffnet die oberste Schublade.
»Dann wirds Zeit.«
»Für was?«
»Euer Haus ist verkauft, alles ist abgemeldet und mit der Schule bist du durch.«
»Jap, ich bin frei.« Wie oft habe ich in den letzten drei Jahren davon geträumt. In den Nächten, in denen ich neben Mom auf dem Badezimmerboden lag und ihr die wenigen Haare gehalten habe, wenn sie sich wegen der Chemo übergeben hat. Während Moms wochenlangen Krankenhausaufenthalten, in denen ich täglich mit neuen Katastrophen konfrontiert wurde.
Der Krebs hat in die Lunge gestreut.
Die Krankenkasse übernimmt die Medikamente nicht.
Die Raten fürs Haus sind überfällig.

Ich habe mich für diese Träume von Freiheit geschämt, manchmal sogar gehasst, aber sie sich vorzustellen, bedeutete Frieden.
Jetzt fühle ich mich gefangener als zuvor.
»Hier.« Sutton wedelt mit einen Briefumschlag vor meiner Nase. »Für dich.«
»Ich wohne hier, du musst mir nicht schreiben.«
Sie setzt sich auf die Bettkante. »Der ist von deiner Mom.«
Scheiße was?
Ich setze mich auf. Automatisch schnürt sich meine Kehle zusammen. »Was?«
»Als ich damals bei euch war, hat sie ihn mir gegeben.«
Vorsichtig nehme ich den weißen Umschlag. 
Er ist schwerer als erwartet. Schon als ich ihre vertraute Schrift mit den großen, geschwungenen Buchstaben erkenne, spüre ich Tränen in meinen Augen aufsteigen und wünschte, sie würden überlaufen. 
Aber das werden sie nicht. 
Nicht ein mal weinen kann ich noch. 
Seit der Nacht im Krankenhaus bin ich tot. Selbst auf Moms Beerdigung stand ich nur wie gelähmt da, habe mir die Trauerfloskeln der Gäste angehört und ihre merkwürdigen Blicke bemerkt. Sie haben gespürt, dass mit mir etwas nicht stimmt.
Welcher Mensch vergießt nicht eine Träne auf der Beerdigung seiner Mutter? Einer Mutter, die ich über alles geliebt habe.
Jetzt gehört die Taubheit zu mir wie die gefälschten Louboutins und Fake-Gucci-Klamotten, die ich trage, damit niemand sieht, wer ich wirklich bin. Ein unsicheres Mädchen, dessen einzige Lebensaufgabe die Pflege, seiner kranken Mutter war. Ein Mädchen, das nicht so oberflächlich ist, wie es sich nach außen gibt.
Sutton tippt auf den Brief. »Sie wusste, dir würds richtig scheiße gehen.«
»Surprise, surprise. Was steht drin?«
»Keine Ahnung, ich lese doch nicht deine Post.«
Was auch immer Mom mir sagen wollte - ich bin nicht bereit.
Wann ist man jemals bereit für die schwierigen Dinge?
»Mach ihn auf.« Sutton nickt ermutigend.
Ein Klotz legt sich auf meine Brust, zögerlich fahre ich mit dem spitzen Daumennagel unter dem Rand entlang und klappe den Umschlag auf. 
Ich sehe zu Sutton, sie nickt. »Soll ich rausgehen?«
Ich schüttele den Kopf, will nicht alleine mit den Worten meiner Mutter sein. Zögerlich ziehe ich den Zettel und einen Schlüssel heraus und blicke auf das weiße Papier.
Sian.
Wie beginnt man so einen Brief? So wie in Filmen à la: Wenn du das liest, bin ich tot? Ich habe lange darüber nachgedacht, aber du kennst mich. Immer gerade heraus. Also fange ich so an, wie du mich in Erinnerung behalten sollst. Mutig und stark  ...

Mein Kinn zittert, ich schließe die Augen. »Ich kann nicht.«
Sutton legt ihre Hand auf meinen Unterarm. »Das war ihr wichtig, tu ihr den Gefallen.«
Am liebsten will ich sie anschreien. 
Wer denkt bei all dem auch nur eine Sekunde an mich? Weiß sie, wie schwer das hier für mich ist? 
Doch ich schweige, denn sie tut, was sie kann.
Ich beiße die Zähne zusammen und lese weiter.
Wahrscheinlich fühlst du dich gerade, als hätte man dir das Herz herausgerissen und glaub mir, jetzt, beim Schreiben, geht es mir genauso. Ich hätte alles dafür gegeben, dich weiter aufwachsen zu sehen. Kinobesuche, Weihnachten, Geburtstage. Deinen nächsten Geburtstag zusammen feiern. Aber es kommt nicht immer so, wie wir uns das vorstellen, und manchmal merkt man erst, wenn der Vorhang fällt, wie viel man verpasst hat und wie viel man noch verpassen wird. Wir stecken so in unserem Alltag, in unseren Problemen, dass wir oft vergessen, auf was es ankommt. Das Einzige, auf das es ankommt. LEBEN. 
Jede Stunde, jede Sekunde. Jeden verdammten Moment.
Meins ist vorbei, aber du bist jung, gesund und frei.

Frei. 
Die Macht ihrer Worte überrollt mich mit so einer Wucht, dass ich auf dem Bett zusammensacke.
Ja, ich wollte frei sein. Aber nicht so. Nicht ohne sie.
»Ist okay.« Sutton krabbelt zu mir, schlingt ihre Arme fest um meinen Oberkörper und legt ihre Wange gegen meinen Rücken. »Ist okay.«
Ich straffe die Schultern und zwinge mich, weiterzulesen, obwohl ich schreien, um mich schlagen und wegrennen will.
Du willst das nicht hören, aber es ist wichtig. Ich möchte, dass du wieder lebst. Die letzten Jahre waren die schlimmsten in deinem Leben, du hast genug Zeit verschwendet. Ich weiß aber auch, dass Weitermachen nicht einfach ist, wenn man nicht weiß, wohin der Weg führt. Also lass mich dich ein letztes Mal an die Hand nehmen.
Bereit?
Fahr nach Shelmore Falls. Der Audi ist nicht mehr besonders fit, aber er ist sicher. Fliegen geht schneller, aber fahren ist ehrlicher. Therapeutischer.

»Mom.« Ich lächle schwach. »Du bist doch irre.«
Erinnerst du dich an Grandma Maisys Hütte, in der wir damals jedes Weihnachten verbracht haben? Sie hat sie mir nach ihrem Tod vermacht.
»Was?« Ich lese weiter.
Guck nicht so, auch Mütter haben Geheimnisse. In der Hütte findest du den nächsten Wegweiser. Das ist kein Abschiedsbrief, das ist ein Neueranfangbrief.
Ich liebe dich,
Mom

Eine Weile starre ich auf den Brief, dann nehme ich den Messingschlüssel und betrachte ihn.
»Wofür ist der?«, fragt Sutton.
»Ein Abenteuer.«
Sie reißt die Augen auf. »Was?«
»Ich fahre nach Shelmore Falls.«

***

Ob Sian Shelmore Falls erreicht und wie ihre Begegnung mit Davion und seinem Stiefsohn Lato sie in einen Sumpf aus Verlangen, Geheimnissen und Lebensgefahr zieht, erfährst du in wenigen Tagen. Bestell das Ebook jetzt vor, um gleich am 1. Februar weiterzulesen.
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